Armin Nassehi zeigt in seinem Buch Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft (2019), dass die Digitalisierung eigentlich nur eine besonders ausgefeilte technische Lösung für ein Problem darstellt, welches sich die moderne Gesellschaft schon immer gestellt hat. Nämlich, wie die Gesellschaft mit Mustern umgeht. Das Buch ist also der Versuch die Digitalisierung als eine gesellschaftliche Kulturerscheinung zu verstehen: Es geht also um eine Theorie der digitalen Gesellschaft, wie dies auch der Titel schon verrät.
Das Buch folgt dem Grundsatz, dass Digitalität und Digitalisierung nicht vorausgesetzt werden können. Nassehi sieht die Digitalisierung als Prozess hin zu mehr Digitalität. Es wird allgemein den Forschungsfragen nachgegangen, warum die Digitalisierung entstehen konnte und wieso in der Gesellschaft klar ist, dass sie nicht einfach nur als Störung wahrgenommen wird. Denn wenn sie nicht zur Gesellschaft passen würde, wäre sie längst wieder verschwunden.
Und die wichtigste Frage: Für welches Problem die Digitalisierung eine Lösung ist? Also die Frage nach der Funktion der Digitalisierung. Nassehi zufolge, konnte die Gesellschaft überhaupt entstehen und in die Gesellschaft aufgenommen wurde, weil sie Strukturwert bekommt hat und so persistiert: Das heisst, sie hat sich bewährt und wurde aufgenommen. Wichtig ist, dass meist die Intentionen nicht identisch mit dem ist, wie es schlussendlich auch gebracht wird. Ebenfalls wichtig zu erwähnen ist, dass Nassehi eine digitale Gesellschaft auf Ende 18./frühen 19. Jh. datieren würde. Anschliessend werden nun einige Inhaltspunkte des 3. Kapitel zur Multiplen Verdoppelung der Welt erläutert.
Beobachtung
Nassehi beschreibt den Beobachter als Schlüssel für alles, denn nichts lässt sich beschreiben, ohne dass es beobacherrelativ beschrieben wird. In Datensätzen verweisen Zustände auf Zustände aber praktisch erzeugen sie durch entsprechende Bearbeitung eine Oberfläche, die lebensweltlich verstehbar wird und deshalb eben keine virtuelle Realität repräsentiert, sondern die, die praktisch möglich ist. Genau in dem Sinne sind Daten Beobachter, die auf sich selbst verwiesen sind, darin aber geradezu grenzenlos rekombiniert werden können und nach eigenen Regeln die Welt verdoppeln. Nehmen wir das Beispiel der Schrift: auch sie verdoppelt die Welt, in dem sie für etwas steht, ohne es im strengen Sinn zu sein, in dem sie also letztlich ein Eigenes ist, dem man das Verdoppelte zugleich ansieht und eben doch nicht ansieht. Schrift muss gelesen werden. Nassehi sieh die Schrift als das erste digitale Medium, weil sie aus Zeichen besteht, die schon ästhetisch vermitteln, dass sie nicht das sind, wofür sie stehen. Die Verdoppelung der Welt durch die Schrift verweist darauf, dass nicht einfach auf etwas verwiesen wird. Nassehi sieht die Schrift aber auch als eine Verdoppelung, die auf das Verdoppelte schon ästhetisch verzichten kann, weil sich in einer Schriftkultur die Dinge selbst in einer Schriftform darstellen. Ein wichtiger Punkt hierbei: Die Schrift fällt uns nicht auf, weil wir an sie gewöhnt sind.
Die Form der Verdoppelung der Welt bringt die Digitalisierung dazu ein Eigenleben zu produzieren, so dass die Gesellschaft wie schon durch Schrift und Sprache nochmals in einer Version abgebildet wird, heute einfach in den Daten. Interessanterweise muss hier noch angefügt werden, dass die Daten selbst nicht die Informationen enthalten, sondern die Information enthalten letztlich die Beobachter der Daten, die mit den Daten etwas machen. Nassehi findet, dass Formen der Konnektivität und der Vernetzung die heutige digitale Gesellschaft ausmachen, denn unterschiedliche Teile der Gesellschaft werden konnektiv miteinander verbunden und Daten werden für etwas verwendet, für das sie nicht erhoben wurden. Die Digitalität der Gesellschaft, behauptet Nassehi, ist das Bezugsproblem der Digitalisierung.
Störung
Nassehi behauptet, dass Digitalisierung häufig als Phänomen der Störung auftritt, hier zwei Beispiele:
Erstes Beispiel: Das Problem information overload, welches es schon länger gibt, schon in den 1970er wurde es von Alvin Toffler als einer der entscheidendsten modernen Kultur- und Zukunftsschocks in die Diskussion eingeführt. Der informationoverload durch digitale Medien kennt derzeit noch keine eingeführten Routinen, mit der schieren Menge von Daten umzugehen – und das auf den unterschiedlichsten Ebenen. Daten brauchen selbst wieder datenförmige Tools zur Ordnung der Daten. Letztlich ist der gesamte Umgang mit Daten davon geprägt, wiederum datenförmige Techniken in Anspruch zu nehmen, um damit etwas anzufangen. Das Besondere hierbei ist, dass Daten überall anfallen und zwar dezentral und zugleich sind die dezentralen Datensätze aber in vielfältiger Weise rekombinierbar. Diese Umnutzung ist eine Folge des informationoverload. Es muss ein overload sein, denn gerade der Datenüberschuss erzeugt erst das Material, mit dem das getan werden kann, was als digitale Lösung möglich ist. Die Störung besteht darin, dass mit den Daten eben keine Objekte vorliegen, die in Datenform zu bringen sind. Daten sind völlig selbstreferentiell, was ihre radikale Rekombinationsfähigkeit erst ermöglicht, was zuvor schon weiter ausgeführt wurde.
Als zweites Beispiel stört sich die Digitalisierung an der Idee des Originals bzw. der Identität von Objekten. Das Kopieren einer Datei erzeugt tatsächlich die Datei noch einmal, und zwar ohne jeglichen Verlust. Die Kopie ist keine Kopie, weil sie mit dem Original identisch ist, das dann als Original verschwindet. Ein digitales Werk oder Objekt ist zwar auch an einen Träger gebunden – eine physische Datei oder einen nicht-physischen Speicher-, aber es ist ohne Verlust vom Speichermedium zu trennen. Solche Störungen aber etwas damit zu tun, dass neben den klassischen Verdoppelungen der Welt in den bekannten Formen nun die Verdoppelung der Welt in Datenform zu neuen Formen führt.
Nassehi resümiert das Kapitel, in dem er sagt, dass auf der Suche nach dem Bezugsproblem der Digitalisierung der Gesellschaft als erster Schritt herausgearbeitet werden konnte, dass die Funktion der Digitalisierung in der Komplexität der Gesellschaft selbst begründet werden kann. In der digitalen Gesellschaft werden Anschlussfähigkeiten und Routinen durch die digitale Informationsverarbeitung der Gesellschaft nicht zweitcodiert, aber doch empirisch verändert. Die digitale Verdoppelung der Welt arbeitet an der Komplexität der Welt, indem sie Muster festlegt, mit denen sie etwas anfangen kann.
Mit Nassehis Vorschlag der Verdoppelung, steht also ein Instrumentarium zur Verfügung, womit vermieden werden kann, die Digitalisierung und die Datenwelt als etwas ganz Anderes zu betrachten als bisherige soziale Praktiken. Auch die Digitalisierung ist folglich eine Praktik der Verdoppelung.
Zum Autor: Armin Nassehi
* 9. Februar 1960 in Tübingen
1979 – 1985: Studium der Erziehungswissenschaften, Philosophie und Soziologie in Münster und Hagen
1992: Promotion zum Dr. phil. in Soziologie
Seit 1998: Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der LMU
Das Buch:
Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019
3. Auflage
ISBN: 978-3-406-74024-4
*Titelbild: unsplash.com
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