Erfahrene Jodlerinnen und Jodler in der Region rund um den Alpstein verfügen über ein beeindruckendes Repertoire an Melodien, die sie klar unterscheiden, einzeln benennen und jederzeit abrufen können. Wie schaffen sie das? Dieser Frage gingen Forschende der Hochschule Luzern in einer musikkognitiven Studie in Zusammenarbeit mit dem ROOTHUUS GONTEN nach.

Eine der frühesten notierten Jodelmelodien der Region: Kuhreien aus dem Liederbuch der Maria Josepha Barbara Brogerin, 1730. (Quelle: Originaldokument im Roothuus Gonten)

Roothuus Gonten, Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik. (Foto: Roothuus Gonten)

Ob Appenzell Innerrhoder «Rugguusseli», Appenzell Ausserrhoder «Zäuerli» oder Toggenburger «Naturjodel» – in der Region rund um den Alpstein hat Jodeln eine lange Tradition. Typisch für diese Tradition, die mehrheitlich mündlich gelernt und weitervermittelt wird, ist der mehrstimmige Jodelgesang. Das Roothuus Gonten, Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, besitzt eine eindrückliche Sammlung davon: «Mit Notenblättern zu über 1’400 Naturjodel respektive 3’500 Naturjodelteilen, teilweise inklusive Tondokumenten, haben wir die grösste derartige Sammlung der Schweiz», sagt Geschäftsführerin Barbara Betschart.
Wie gelingt es Jodlerinnen und Jodlern, sich eine Fülle an Jodelmelodien zu merken? Dieser Frage widmete sich ein Forschungsteam der Hochschule Luzern – Musik in einem vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Projekt. «Für Unkundige mögen Naturjodel zwar recht ähnlich klingen, aber sie unterscheiden sich bei genauerer Betrachtung deutlich, etwa in Bezug auf den Melodienverlauf oder das Tempo», sagt Projektleiter und Musikethnologe Raymond Ammann. Mit seinem Team hat er empirische und musikanalytische Daten in Ton, Bild und Literatur untersucht und mit Aussagen von Jodlerinnen und Jodlern verglichen.

Kulturelles Wissen und persönliche Erinnerungsstrategien bilden den Schlüssel

Für die Untersuchung wertete das Forschungsteam zunächst die Sammlung des Roothuus Gonten aus. «Appenzeller und Toggenburger Naturjodel eignen sich für eine musikkognitive Studie besonders, weil dieses lebendige Brauchtum oftmals ohne Musiknoten gelernt und mündlich, also nach Gehör, überliefert wird», so Ammann.
Um der Überlieferung und dem Erlernen von Jodelmelodien auf den Grund zu gehen, befragte das Forschungsteam aktive Jodlerinnen und Jodler nach deren Erinnerungsstrategien. «Basis bildet für sie eine jahrelange Erfahrung und eine grosse Vertrautheit mit dieser Musikkultur. Das Wissen abzurufen ist oftmals ein ganz unbewusster Prozess», erklärt Ammann. So gaben auch die meisten von ihnen in Interviews an, «das einfach zu können». Dennoch fanden die Forscherinnen und Forscher bei genauerem Nachfragen heraus, dass die ersten paar Töne eines Naturjodels das wichtigste Markenzeichen sind. «Sie wirken wie ein Signal für das Gehirn und bringen die Melodie in Gang, ohne dass sich die Jodlerin oder der Jodler ausdrücklich darauf konzentrieren muss», so Ammann. Deshalb würden erfahrene Sängerinnen und Sänger unterschiedliche Eselsbrücken verwenden, um sich an Jodelanfänge zu erinnern: Einige merken sich Jodelsilben, andere visualisieren eine besonders eindrückliche Situation oder eine Person, mit der die Melodie in Verbindung steht. Wer zusätzlich über musiktheoretisches Wissen verfügt, macht auch von diesem Gebrauch und prägt sich zum Beispiel Intervalle oder harmonische Fortschreitungen ein. 

Der Jodel hilft dem Gedächtnis, sich zu erinnern

In der in sich geschlossenen Struktur des Naturjodels liege laut Ammann sowohl der Schlüssel dafür, sich an ihn zu erinnern, als auch sein Potenzial, beim Menschen eine Fülle an Erinnerungen und Emotionen zu provozieren. Jodlerinnen und Jodler rufen daher während einer Darbietung ein Motiv nach dem anderen ab. «In der Forschung sprechen wir von assoziativen Ketten. Das heisst, dass Jodelmelodien einerseits in sinnstiftende Einheiten im Gedächtnis gruppiert werden und diese sich andererseits beim aktiven Singen automatisch miteinander verknüpfen», erklärt der Wissenschaftler. 
Im Schnitt gaben die Befragten an, zwischen 15 und 30 Naturjodel abrufen zu können. «Beim gemeinsamen Singen entsteht immer ein enormes soziales Repertoire, und zwar dadurch, dass die Mitglieder eines Jodlerklubs die Stimmen – Melodiestimme, 2. Stimme, Chorbegleitung – unter sich aufteilen», so Ammann. Das wiederum erleichtere die Lern- und Erinnerungsarbeit. So würden Jodlerinnen und Jodler einen Naturjodel auch dann begleiten können, wenn sie dessen Melodie nicht exakt kennen, hält das Forschungsteam fest. 
Im Verlauf der Forschung zeigte sich zudem, wie sich die Weitergabe von der älteren Generation zu den Jungen durch neue Medien bereits verändert hat: «Dass man heute eine Melodie spontan mit dem Handy aufnehmen kann, ermöglicht praktisch jedem Jodler und jeder Jodlerin das Speichern und wiederholte Nachhören von Aufnahmen», so Ammann.

Die Resultate der Arbeit sind im Rahmen der Publikation «Jodeln im Kopf» erschienen. Zudem gibt ein gleichnamiger Film, finanziert durch die Stiftung ROOTHUUS GONTEN, Einblick ins Jodelbrauchtum rund um den Alpstein. 

Film «Jodeln im Kopf» in voller Länge

«Jodeln im Kopf»: Buch und Film zum Forschungsprojekt

Die Publikation «Jodeln im Kopf. Erkenntnisse einer musikkognitiven Untersuchung im Alpsteingebiet» ist im Chronos-Verlag Zürich erschienen. Autor-/innen: Das Forschungsteam der Hochschule Luzern mit Raymond Ammann (Projektleiter), Andrea Kammermann und Yannick Wey. Gebunden, 178 Seiten, 45 Abbildungen. ISBN 978-3-0340-1636-0. CHF 38.00 / EUR 38.00 Zudem ist ein E-Book erhältlich (Gratis-Download).
Der Film «Jodeln im Kopf» ist – zusammen mit weiteren Informationen zur Forschung – auf der Projektwebsite hslu.ch/naturjodel und unter roothuus-gonten.ch zu finden. Er wird zu einem späteren Zeitpunkt auch im ROOTHUUS GONTEN gezeigt.

Titelbild onten, Rootshuus Gonten. Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik. (Foto: Roothuus Gonten)